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Von Einem. Es war einmal ein Frommer, der ging alltäglich spazieren, um sich in freier Natur mit seinem Herrgott zu unterhalten. Wenn er so vor sich hinsprach, raschelte es Antworten oder ein Sturm wehte ihm ein göttliches Wort um die Ohren oder ein Vöglein zwitscherte von oben herunter eine frohe Botschaft, und auch das Plätschern eines munteren Baches verstand er wohl und quittierte es mit dankbarem Lächeln. Und abends, wenn die Sonne unterging, ging er nach Hause und war klüger als zuvor.
Eines Tages aber war alles anders. Der Fromme ging seiner Wege wie gewohnt, doch raschelte es keine Antworten mehr und kein Sturm erzählte, kein Wind flüsterte ihm ins Ohr, und weit und breit war kein Vögelchen zu hören und kein Plätschern. Als er so ging, wurde ihm bange und er suchte und wartete und erschrak heftig, als eine mächtige Stimme ihm in den Weg trat und laut sprach: »Bist du nicht der Unnachgiebigste unter all den Frommen, die mich Tag und Nacht anrufen und sich meine Antworten einbilden?« Der Fromme war sprachlos.
»Und bist du nicht einer von denen, die noch nie ein Bild erschaffen haben?« Der Fromme war erschüttert und suchte nach Worten, während die große Stimme fortfuhr: »Und einer von denen, die noch nie auch nur ein einziges Zwitschern in Musik zu setzen verstanden?« Da kniete der Fromme und stammelte: »Mein Gott...«, aber der Unsichtbare unterbrach ihn:
»Ist dir noch nie die Idee gekommen, daß ich euch vielleicht gar nicht verstehe!« Die Frage donnerte und der Fromme lag wie vom Blitz getroffen am Boden und hörte: »Hast du jemals daran gedacht, etwas anderes zu tun als mir immer nur das Rascheln und Stürmen in den Mund zu legen und das Zwitschern und Plätschern?« Der Fromme rang nach Luft.
»Wann begreifst du endlich«, rief die Stimme aus ihrer Unsichtbarkeit, »daß ich euch nur in eurer Kunst sehe und euch nur in eurer Musik höre und euch nur in eurer Dichtung verstehe!« Der Fromme wälzte sich am Boden, und der Abend kam, und der Heimgesuchte eilte durch die Finsternis nach Hause und weinte die Nacht über fröhliche Tränen, und als die Sonne über den Bergen aufging, da nahm er einen Stift zur Hand und schrieb in großen Lettern an die Wand: »Nur Erschaffenes ist wirklich« und machte sich an die Arbeit …
Keuchenius
John Constable, 1812
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