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Kunst: Auge um Auge
Einführung zur Ausstellung im Schloß Neckarhausen 2014 Keuchenius
I. Ob wer was von Kunst verstand oder nicht – eines wußte er immer: die Binsenweisheit nämlich, daß Kunst von Können kommt. Längst sind aber schon Lästerzungen gewachsen, die sagen: Ja, ja, die Kunst, sie kommt von Können, aber nicht die moderne Kunst. – Spaß beiseite!
Irgendwoher muß sie kommen, die Kunst,
und so machen wir uns schon lange Gedanken über sie
und überheben sie philosophisch und durchleuchten sie psychologisch;
verstehen sie als Ausläufer letzten religiösen Gefühls oder als grundpolitisch;
als Tradition schaffend oder alte Sehgewohnheiten abschaffend und provozierend;
als reines Handwerk der Ab-bildung und Wiedergabe des Gegebenen
oder als Schaffensprozeß, der über das Gegebene hinausführt.
Wir machen uns Gedanken darüber, was Sinn und Zweck der Kunst ist
und kommen zu weit auseinanderliegenden Positionen:
Dient sie oder ist sie frei?
Wer nun denkt, die von weltlichen und kirchlichen Fürsten befreiten Künstler der Moderne verschafften sich mehr Freiheit und Spielraum, der sollte nochmal gründlicher nachdenken. Immerhin erfüllten die Modernen das, was zuvor die Bildergegner forderten: Die Abschaffung des Bildes als Ab-bild und als Wiedergabe dessen, was in der Welt zu sehen ist. (Und das o h n e das Malen ganz aufgeben zu müssen.) Wie das möglich ist? Aber das wissen Sie ja: Die Impressionisten lösten die Konturen auf, die Farben liefen sozusagen aus, die Gegenstände verschwammen, und die (von der Renaissance eroberte) Perspektive nahm ab. Auf dem Weg über den Kubismus bis hin zu den Abstrakten wurde die Gegenständlichkeit schließlich gänzlich aufgelöst; die Bilder waren keine Abbilder mehr ... Nie zuvor gab es einen so radikal freiwilligen Verzicht auf das Abbild wie in der Moderne; und eine so radikale Erfüllung des Gebots »Du sollst dir kein Bildnis machen.« Nun, ich bin mir gar nicht so sicher, ob der Liebegott das denn so meinte. Die Künstler der neuen Avantgarden jedenfalls nahmen sich ernst, sehr ernst, wenn sie um ihre neuen Richtungen rangen. Denn sie rangen nicht nur mit ihrer Muse, sondern auch gegeneinander. Blaues Auge um blaues Auge ging es da schon mal, wenn etwa Malewitsch, der Schöpfer des Schwarzen Quadrats, sich mit dem Schöpfer eines noch bißchen figürlicher und perspektivischer geratenen Werkes prügelte. Auge um Auge zur wahren Kunst – noch nie fiel mir ein besseres Schlußwort ein, aber, ich bin noch nicht am Ende – die hier ausstellenden Künstler warten noch ...
II. Ich begrüße zunächst KATHARINA BOLZ, die sich mir damals vorstellte mit dem Wunsch, Illustratorin zu werden. Auch ich wünsche mir viele von ihr illustrierten Bücher, die ich Katharina nicht nur zutraue – ich seh´ sie schon vor mir! Katharina hat, als unsere Jüngste, die gewiß frischeste – taufrische – Reihe beigesteuert. Ein Mädchen, das sich zielstrebig verirrt, u. a. in die HSK, um, aus dem eigenen Stand heraus, ein paar Sprünge zu versuchen. Ein paar handwerklich technische Sprünge auch, um schließlich an einen noch ungemalten Ort zu gelangen, wo sie erst zögernd und dann in alle Himmelsrichtungen stürmend die Frage ruft: »Wo bitte geht’s hier zur Kunst?« Und ohne auf Antwort zu warten, springt sie ins Ungemalte, reißt sich die Farben vom Leib und folgt ihrer noch ungegangenen Spur ...
Ihr folgt, alphabetisch, KEUCHENIUS. Da es sich bei ihm um mich handelt, käme ich bei der Selbstbetrachtung in Verlegenheit, sodaß ich lieber nur zitiere. In der RNZ schrieb Heide Seele: »Die Bilder« des Künstlers, der »fest in der abendländischen Tradition verwurzelt ist, schlagen eine Brücke vom Sakralen zum Profanen. Ihr Ausdrucksgehalt ist zwischen Leid und Lust anzusiedeln. Heilige neben lockeren Mädchen, stille Gebärden der Versenkung neben grellroten Mündern.« Auch ein Autor der Badischen bleibt an den roten Lippen der Damen hängen und meint: »Rätselhaft bleibt dem Betrachter, warum die rotlippigen Luder zwar im Kontrast zu den biblischen und den philosophischen Figuren auftreten, aber nicht wirklich einen Gegensatz zu ihnen bilden. Vielleicht eint alle der Ernst, mit dem Keuchenius´ Kunst am Menschen festhält.« Und da aller guten Lobe drei sind, hier noch eines, das zu den vorausgehenden paßt: »Nicht vom Fortschritt zeugen Keuchenius´ Bildnisse und nicht von Höhenflügen, sondern von der Vertiefung des Menschen«, mithin auch von tiefem Fall. Gerne lasse ich mir diese Übertreibungen gefallen – wie sonst könnte ich die folgende Kritik überstehen: Schon einmal stellte ich hier im Schloß aus und sah, wie am Abend der Eröffnung ein kleiner Junge sich über das Gästebuch beugte, alles las und dann selbst etwas dazuschrieb und lächelnd und eilig den Raum verließ. Neugierig ging ich zu dem Buch, um mich überraschen zu lassen und las: »Das sind Scheißbilder!«
Mit CHRISTIAN LÄRZ lief es so. Man hatte mich gebeten, mit Christian Lärz Kontakt aufzunehmen, mit einem Tetraplegie-Patienten, einem querschnittsgelähmten jungen Mann, der seit einem Unfall nur noch den Kopf bewegen kann. Seine beschäftigungstherapeutischen Versuche sollte ich mir ansehen, sie begutachten und beurteilen, ob ich mit dem Herrn Lärz etwas anfangen könne. Auf diese abenteuerliche Idee war seine Ergo-Therapeutin Doris Fellhauer gekommen, welcher hierfür zu danken ist. Die Mundmalerei meines Schülers wurde nicht nur allmählich, sondern von Mal zu Mal immer besser, sodaß ich ihm schon nach einem Jahr eine kleine bescheidene Ausstellung organisierte, und vergangenes Jahr nahm ich eine seiner Stadtlandschaften in das neue Heidelberg-Buch auf, heimlich, um ihn zu überraschen, und legte das Bild auch der Wochenzeitung DIE ZEIT vor, wo das folgende zu lesen steht (im Auszug): »Stifte und Pinsel bewege ich mit dem Mund. Ein Lehrer der Heidelberger Schule für Kunst (Keuchenius) sah ein paar unbeholfene Kritzel von mir und sagte: Das wird bald Hand und Fuß haben.« Seither kam er jede Woche für eine Stunde zu mir, und aus den Kritzeln wurden Aquarelle von Landschaften und Räumen, die ich nicht mehr betrete und die sich mir nun dank der Kunst wieder öffnen. So entstand auch eine weitere Ansicht meines derzeitigen Wohnorts Heidelberg, die nun sogar – ohne mein Wissen – in ein Buch (»Heidelberg – Geist und Rätsel«) aufgenommen wurde. Ich wollte es nicht glauben: ich, zwischen lauter berühmten Künstlern, die diese Stadt gemalt haben, nur ein paar Seiten von William Turner entfernt, ein paar Seiten nach dem zeichnenden Goethe. Als ich fragte, wie das sein kann, sagte mein Lehrer: »Das kommt davon, vom Kritzeln.« Ich weiß, daß Du noch vieles zu Wege bringen wirst, Christian.
ANKE NEUMANN hatte im vergangenen Jahr an anderem Ort eine Einzelausstellung, zu deren Eröffnung ich diesen abschließenden Satz sagte: »Wer mit dem Schöpferischen einmal ernst macht, den läßt die Kunst nicht mehr los; mit dem hat die Kunst etwas angefangen.«
Daraufhin nahm sie eine Pause, eine verdiente,
dann eine Verlängerung der Pause und schließlich eine Auszeit,
mit der persönlichen Einsicht, daß sie dann für hier und jetzt nicht liefern könne
und also aus der Ausstellung aussteigen müsse. Ich bot den Kompromiß an,
das damals neueste hier noch einmal zu zeigen, sozusagen um in Fahrt zu bleiben.
»Exotisch orientalische Wellness« könnte man die 3 Kreidearbeiten nennen, für »1001 Nacht«,
aber, Anke, dann bist du uns, nach Adam Riese, noch 997 weitere schuldig …
Mit einer vierten Arbeit hast Du Dir sogar eine »Brücke« gebaut
– die alte Heidelberger Brücke – zu neuen Ufern, denke ich,
die Du aber noch nicht beschritten, geschweige denn überschritten hast.
Willst du denn unbedingt riskieren, daß wir Dich hier im Schloß-Verließ einsperren,
strafweise bei Brot und Wasser und Kreide und Papier?
Und wenn das auch nicht klappt, kommt noch täglich 1000 mal Schreiben hinzu:
»Talent verpflichtet … Talent verpflichtet … Talent verpflichtet …«
(1000 mal, und es wird nachgezählt!).
Wenn´s Dich jetzt schüttelt und ängstigt
und die Albträume schon vor dem Schlafengehen einsetzen
und Du tätige Reue gelobst, künstlerisch tätige Reue,
dann setze ich die gerechte Strafe zur Bewährung aus
und gebe zu, daß ich jetzt schon neugierig bin, was dabei herauskommt.
Alphabetisch schließen wir mit ALIN POLLES. Als sie zu mir kam und ein paar Blätter zur Beurteilung vorlegte, sah ich Bilder, aber noch keine Kunst. Auch die sympathisch zurückhaltende Stimme versprach noch keine Kunst. Natürlich weiß ich, daß sie und alle, die mit ähnlichem Anliegen kommen, lieber was anderes hören; lieber das, wovon sie träumen und weniger das, was Sache ist. In dieser meiner Not mischte ich ihren vor lauter Wollen dunkel leuchtenden Blick in ihre mitgebrachten Bilder ein, und siehe da, ich sah noch anderes und ahnte … Kunst. Über sie, also über Alin Polles´ Kunst möchte ich Ihnen einen kleinen Ausschnitt ihres momentanen Standes mitteilen: Abstraktion geht ja gewöhnlich den Weg vom Genständlichen zum Ungegenständlichen. Bei Alin Polles, bei ihren gemalten Bildern (mehr als bei den gezeichneten) hat es den Anschein, das künstlerische Geschehen komme umgekehrt aus dem Ungestalteten in die Gegenständlichkeit. Ihre Landschaft, Türme, das Boot, eine Brücke, all das t a u c h t auf (und kündet von seinem erneuten Verschwinden). Die schlummernde Landschaft, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart wächst, die alte Brücke, die von Heidelberg flüstert, das in eine angehaltene Zeit treibende Boot – all das sind Bilder, in denen wir Stille hören. Vielleicht ist sie ja Musikerin, die das Leise komponiert, und was wir sehen, das sind Partituren der Stille, die wir mit den Augen wahrnehmen.
* Am Ende darf Goethe noch was sagen, der den zu einer schönen Ausstellung passendsten Satz aufschrieb: »Welch eine Freude, in Zügen und Farben dem Unaussprechlichen näher zu kommen.« Es geht natürlich auch amerikanischer: Wenn die Amis performen, rufen sie ihrem Publikum gerne sowas zu wie: »I love you all!« Ich bin kein Amerikaner und werde das nicht sagen ... Nein, sowas liegt mir nicht! Aber gerne kann ich es Euch übersetzen: Ich liebe euch alle ...
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