Wer ist noch zu retten?

  »Gekreuzigter Bauer« (Keuchenius)

 

Es flog ein Marsmännchen auf die Erde, schaute sich um, machte Notizen, flog wieder zurück, erzählte, was es erlebt hatte, und wurde ausgelacht. Mit anderen Worten: Man hat ihm kein Wort geglaubt. Ja sogar an seinem Verstand gezweifelt. Sicherheitshalber steckte man ihn für ein paar Tage in Quarantäne, in Psycho-quarantäne, denn Unsinn kannte man bis dato noch nicht unter der Marsbevölkerung, und möglicherweise sei der ansteckend und könne (wer weiß!) in epidemischen Ausmaßen den klugen Marsianern den Verstand kosten und den Untergang des Mars bedeuten.

 

Anlaß für die Internierungsmaßnahme war die kaum zu glaubende Stelle im Bericht des Erdreisenden, die wortwörtlich wie folgt lautete: »Zwei Dinge, liebe Mitmännchen und -frauchen prägen die Erdwelt: Geld und Gift. Besonders anschaulich betreibt's ein Chemie- und Saatgut- Konzern namens M. Der stellt her und vermarktet ein Gift, das alles Leben zerstört. Damit die 'Mutter Erde' – so nennen die Erdbewohner liebevoll ihren Planeten –, nicht einfach verendet, entwickelt M. zeitgleich zu seinem Gift ein Gegengift, nämlich genmanipulierte Pflanzen, die auch auf der toten Mutter Erde wachsen. Das ließ M. sich patentieren, um so an Mord u n d Auferstehung zugleich zu verdienen. Denn die Mordgesellen (mit M wie Monsanto) sind mit dem Patent rechtlich ja die alleinigen Helfer.« (Und die vom Acker gejagten Bauern können ihr Glück als M-Aktionäre versuchen.)

 

Erst hatten die Zuhörer sich die Bäuche gehalten vor Lachen. Später aber, als ihr Mitmännchen auch noch nach seiner Entlassung allen Ernstes dabei blieb, er habe Wort für Wort die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt, und als er sogar Tränen darüber vergoß, daß sich sowas im Universum herumtreibe, da glaubten ihm ein paar wenige und die wurden mehr und schließlich die Mehrheit, und die versuchte nun in ihrem angeborenen Optimismus zu retten, was zu retten war, und wollte zum Beispiel wissen, ob es denn auch Erfreuliches zu berichten gebe. Irgendetwas Nettes, etwas Schönes müsse doch zu finden gewesen sein auf Erden. Der Erdreisende nickte, blätterte in seinem Notizbüchlein, bis er die Stelle fand, die sein Gesicht endlich wieder strahlen ließ: »Hier!«, rief er, und seine Stimme zerfloß in höchsten Tönen. Von der »Kunst« berichtete er nun als einer Eigen-Art der Irdischen, die gern alles, was sie sehen (und auch alles, was sie nicht sehen), »in Bildern einfangen, stellt euch das einmal vor!«, rief der Heimkehrer, aber niemand konnte sich das vorstellen, denn Kunst und Bilder kannten sie noch nicht. Nachdem ihnen unter großer Mühe erklärt worden war, was ein Bild sei und überhaupt die Kunst, da rief einer aus der Menge der Zuhörer: »Was! Erst machen die alles kaputt, ziehen sich den Boden unter den Füßen weg, und dann rahmen sie die Reste ihrer Erinnerung und hängen das Ganze an die Wand? Sind die noch zu retten?«

 

Diesmal hielten die Marsianer sich nicht die Bäuche, sondern den Atem an. Richtig verstehen konnten sie ihre planetarischen Nachbarn und deren Widersprüche nicht – einerseits die Zerstörungswut, andererseits die enorme Schöpferlust – und sie schüttelten ihre Köpfe und schüttelten das eine weg und bewunderten das andere: die Kunst! Zwar verstanden sie auch die (noch) nicht recht, doch die Idee gefiel ihnen, und so ließen sie den Erdkundigen weiter blättern, bis er die Termine für die Sommerkurse der Heiddelberger Schule für Kunst fand, denn sie waren nun ganz begierig darauf, auch ihre eigene Umwelt noch einmal zu erschaffen, zu bilden, und auch ihren Nächsten: ganz ähnlich oder mit Herzblut aufgefrischt; mit fahrigen Fingern suchend oder aus purer Lust am Machen. Und auch sie wollten das Wirkliche mit dem Möglichen vermischen und ihre Fehler als schüchterne Vorboten für das Stimmige schätzen lernen.