Kunst kommt von Aufwachen

  Milena Sara Leon, Welt ohne Sheila (Acryl)

 

Gestern kam Sheila wieder zu Besuch. Seit sie vor drei Jahren gestorben ist, kam sie nur noch selten. Gestern trat sie durch die Verandatür in meinen Traum, ging an mir vorbei ohne Miau zu sagen, in Richtung ihres Freßnapfs. Nicht schnell, obwohl sie nach so langer Zeit doch hungrig sein mußte, sondern gemächlich. So, als sei nichts passiert. Dabei ist sie doch immerhin gestorben.

 

Was mich nach dem Erwachen am meisten wunderte, war die Tatsache, daß sie im Traum vollkommen realistisch aussah. Obwohl ich sie mir im Kopf doch erst zusammenbauen und wieder »ausmalen« mußte. Und das gelang so einfach ohne daß sie mir Modell stand? Oder ich sonst eine Vorlage zuhilfe genommen hätte? Wenn Sheila selbst nicht da war, mußte das Bild, in welchem sie erschien, von und in mir hergestellt worden sein: künstlerisch sozusagen, doch ganz ohne meine in Übungen erworbene Kunstfertigkeit zu bemühen. Gleichsam wie von selbst.

 

Wahrscheinlich hat der blöde Kater von nebenan (der immer nur eins von ihr wollte), auch schon von ihr geträumt und sicherlich ebenso »realistisch« (für seine Verhältnisse), ebenso augentreu und Sheila absolut ähnlich (abstrakt gilt nicht für Träumer). Oder hat jemand schon jemals im- oder expressionistisch geträumt oder auch nur dilletantisch was hingemurkst in schrägen Bildern? Nein, niemand, und dennoch war es mir urplötzlich nicht mehr begreiflich, daß ich in allen meinen Träumen, sogar in den frühesten meiner Kindheit, im Schlaf Kunstfertiges zuwege brachte. Und nie war auch nur ein Bild verzeichnet oder sonstwie verkorkst. Stets waren es exakte Abbilder von Ungeschehenem. Stets bedient sich das Träumen des realistischen Mittels, auch für Unwirkliches und für all seine Phantastereien.

 

Aber woher, um Gottes Willen, kommt dieses Können? Ungelernt! Bevor wir uns neurobiologisch vergooglen, nehmen wir die Sache, wie sie ist: Wir können etwas, das wir nicht gelernt haben! Etwas, das wir traumwandlerisch können. Im Traum wie in der Erinnerung. Im Kopf also, innen. Aber kaum will's die Hand nach außen tragen – zeichnend oder malend – schon wird es schief und ungelenk da draußen in der Realität. Auf einen seltsamen Nenner gebracht, heißt das: Wir können was und können's nur nicht zeigen. (Innen Leonardo, außen Leo…)

 

Bei der Einsicht wollen wir aber nicht stehen bleiben und streben lieber danach, unsere natürliche innere Meisterschaft »in den Griff« zu bekommen und einen Verbindungsweg von der angeborenen Traumfabrik zur Hand zu finden. Immerhin haben wir ja das Zeug zur Kunst in uns, nur verschlafen wir es. Kaum hören wir den Wecker (lieber die Lerche), zieht sich eine festgemauerte Grenze zwischen die eben noch ausgeübte traumhafte Meisterschaft und der taghellen Welt der künstlerischen Unvollkommenheiten. Die Fleißigen unter uns fordern jetzt «Üben, üben, üben« und die Optimisten unter ihnen stellen in Aussicht: »Übung macht den Meister und die Meisterin«.

 

Doch nicht alle Übungen! Nicht wenige führen nämlich in die Irre, und da wieder rauszukommen, ist eine Kunst für sich. Üben perfektioniert zwar, aber falsches Üben perfektioniert die Fehler! Wer also Leo und noch nicht Leonardo ist, sollte sich davor hüten, beim Zeichnen ein Viertel Stündchen zu überschreiten. Denn jede drangehängte Minute kann zum Verhängnis werden. Wer sich länger verbeißt, investiert seinen Fleiß in die Vervollkommnung seiner Schwächen. Der fruchtbare Weg geht nur über die Erlangung einer eigenen Handschrift. Oder genauer: Perfektion fängt nicht mit der Perfektion an, sondern mit dem Gefühl, welches, vom Gesehenen ausgelöst, einen Weg von innen über den Arm … aber ich will nicht vorgreifen.

 

Sheila kannte ihren Weg, wie immer. Durch die Verandatür in meinen Traum, und dort dann geradeaus – erst rechts, dann links zu ihrem Freßnapf. Sie soll mir ja nicht verhungern.

 

  Keuchenius, Gedicht für Sheila